Ein Koffer voller Fragen

gedanken zu freien demokratischen schulen

Ich weiß gar nicht mehr wie - aber irgendwie bin ich bei einer Recherche im Internet auf die Gründungsinitiative der Demokratischen Schule München gestoßen. Ich versuche mich zu erinnern, welcher Gedankengang mich überhaupt dazu bewogen hat oder wie der Verlauf meiner Recherche war - kann ihn aber beim besten Willen nicht mehr nachvollziehen. Inzwischen glaube ich fast, das Thema hat mich gefunden ;-)


Unser Sohn ist 4 Jahre alt, wir leben in München und ich bin bislang davon ausgegangen, dass er in 2 Jahren die nächstgelegene Regelschule, sprich Sprengel-Grundschule, besuchen wird - warum auch nicht, schließlich entspricht das ja der „Norm“ - so sieht es unser Bildungssystem vor, das ja darauf ausgelegt ist, unsere Kinder bestmöglich auf das Leben vorzubereiten. (Oder nicht?) 

Und das muss ja dann auch alles so seine Richtigkeit haben, schließlich werden sich da ja Menschen Gedanken gemacht haben, die sich sicher besser mit Bildung, Entwicklung und Lernverhalten auskennen als ich. (Dachte ich.)

Und überlebt haben wir das ja schließlich selbst alle. (Ja, überlebt. Und einen Abschluss in der Hand. Aber mehr war es bei den meisten auch nicht.)


Natürlich hatte ich hin und wieder schon kritische Stimmen an unserem Bildungssystem verfolgt und dieses auch in einem gewissen Maß hinterfragt und angezweifelt, aber wie so oft geht man ja aus Bequemlichkeit oder Unwissenheit davon aus, dass sich schon andere darum kümmern würden, wenn es Veränderungsbedarf gibt. Je mehr ich mich mit dem Thema auseinander setzte, desto klarer wurde mir jedoch, dass dies leider kaum der Fall ist. 


Sicher gibt es sehr motivierte Schulleiter, Lehrer, Pädagogen, die täglich ihr Bestes geben, um das Lernen für die Schüler durch z.B. Projekte spannender, praxisnäher, nachhaltiger und selbstbestimmter zu gestalten (einige davon kenne ich persönlich sehr gut und bewundere ihren täglichen Einsatz!) - aber im Grunde genommen ändert auch das nicht viel daran, dass das (veraltete!) Konzept Schule mit Fächer- und Alterstrennung, Noten und Frontalunterricht, wie wir es aktuell größtenteils praktizieren, ganz grundlegende Mängel aufweist, die das Lernen erwiesenermaßen nicht fördern, sondern teilweise sogar verhindern (vgl. Entwicklungsstudien/Hirnforschungen etc. zu diesem Thema). Aber im Detail darauf einzugehen würde meinen Blogbeitrag jetzt wohl sprengen... 


Ich entschloss mich also, ganz unverbindlich an einer Infoveranstaltung teilzunehmen, obwohl ich mich in der Zwischenzeit auch schon selbst recht ausgiebig mit dem Thema auseinander gesetzt und viel recherchiert und gelesen hatte. Alles, was ich bisher erfahren hatte, machte in meinen Augen plötzlich total viel Sinn - aber käme ein solch freies Schulmodell denn auch für unseren eigenen Sohn in Frage? Könnte er sich nach dem Besuch einer solchen Schule überhaupt in unserer Leistungsgesellschaft zurechtfinden, gerade bei so viel Skepsis und fehlender Anerkennung freien Schulen gegenüber? Was ist, wenn er bei einem Konzept, dem zufolge er selbst entscheiden kann, was und wann er lernt, möglicherweise gar kein Interesse an grundlegenden Lehrplan-Inhalten entwickelt und schließlich auch gar keinen Abschluss macht? Wird er trotzdem seinen Weg gehen können? Kann Struktur in der Entwicklung mitunter nicht auch sehr hilfreich und wichtig sein? Kann ich mir tatsächlich vorstellen, unseren Sohn als Art „Versuchskaninchen“ auf eine Schule zu schicken, die gerade erst im Entstehen ist und sich noch gar nicht bewährt hat, selbst wenn ich vom Konzept überzeugt bin? Was stecken da überhaupt für Menschen dahinter? Sind sie qualifiziert, glaubwürdig, oder verfolgen sie vielleicht noch ganz andere Interessen? Und könnte ich als Mutter überhaupt mit so viel Freiheit für meinen Sohn umgehen, oder bin ich dazu nicht selbst viel zu angepasst und um seine Bildung besorgt? Kann ich loslassen und auf seine natürliche Lernfähigkeit vertrauen? Was würde das für unsere eigene Erziehung bedeuten? Und würden wir uns nicht ständig in unserem Umfeld rechtfertigen müssen, bzw. unser Sohn vielleicht viel stärker unter kritischer Beobachtung stehen?

Ist Bildung nicht ein Privileg, für das wir dankbar sein sollten? Aber stop - was genau bedeutet Bildung eigentlich?

Mit einem Koffer voller Fragen (diese und noch viel mehr - ich musste mir sogar einen Spickzettel schreiben) machte ich mich also auf den Weg zu dieser Infoveranstaltung...


Zu einigen Fragen konnten mir dort sämtliche Zweifel genommen werden, andere Fragen werden wohl für mich persönlich noch eine Weile offen bleiben... 

Fakt ist jedoch, dass es inzwischen weltweit sehr viele (und in Deutschland schon fast 20) Schulen gibt, die teilweise schon lange und sehr erfolgreich nach diesem Modell arbeiten und dass auch deren Absolventen in überwiegender Mehrheit keine Probleme haben, sich im Berufsleben und der Gesellschaft zurechtzufinden - eher im Gegenteil.

Die zahlreichen Abgänger von Regelschulen, die zunächst überhaupt nicht wissen, wo ihre individuellen Stärken liegen, was sie aus ihrem Leben machen sollen oder sich in unserer Leistungsgesellschaft verloren fühlen und unzufrieden sind (von Depressionen, Burn-Out & Co mal ganz abgesehen) sollten uns vielleicht viel mehr zu denken geben!


Weil ich die Gründung einer demokratische Schule also für eine sehr gute Sache halte -einerseits natürlich für die SchülerInnen, andererseits aber auch für eine möglichst vielfältige Schullandschaft und als Inspiration für unser Bildungssystem- habe ich mich kurzerhand der Gründungsinitiative angeschlossen, um sie zu unterstützen - und nicht zuletzt auch ein wenig eigennützig, um im Laufe der Zeit möglichst viel darüber zu erfahren und schließlich entscheiden zu können, ob dieses Schulkonzept auch für unsere Familie bzw. unseren Sohn in Frage kommt.


Natürlich habe ich mich auch ausgiebig mit anderen Eltern über das Thema unterhalten. Die Ansichten ähnelten sich größtenteils sehr: fast alle fanden die Idee interessant und stimmten mir zu, dass im Regelschulsystem einiges im Argen liegt und eine Bildungsreform erforderlich wäre, aber in der grundsätzlichen Tendenz überwog bei den allermeisten dann doch die Sorge um die Zukunft bzw. Anpassungsfähigkeit ihrer Kinder und eine gewisse generelle Skepsis alternativen Schulen und der Umsetzbarkeit ihrer Konzepte gegenüber. 

Ich kann das nur allzu gut verstehen und teile die Sorgen und Zweifel zum Teil auch, und trotzdem frage ich mich, ob die Zukunft (und in erster Linie auch das psychische Wohlbefinden) unserer Kinder nicht viel stärker an einer Regelschule gefährdet ist als einzig durch einen vielleicht fehlenden Abschluss.

Vertraue ich dem Bildungssystem/der Politik mehr als meiner eigenen Intuition und meinem Kind?


Mal ganz ehrlich: wer von uns kann seinen Kindern in die Augen blicken und voller Überzeugung behaupten, dass Schule Spaß macht und man wirklich viel für‘s Leben lernt? 


Müssen wir unsere Kinder wirklich zwingen, in eine Schule zu gehen, in der sie sich unwohl fühlen, in der sie mindestens (!) 9 Jahre lang einem horrenden Leistungsdruck, Konkurrenzdenken und vielleicht sogar Mobbing ausgesetzt werden? In der sie zu gehorsamen, funktionierenden Menschen geformt werden? In der sie „altersgemäß“ mit Fächern und Inhalten konfrontiert werden, die sie (jedenfalls teilweise) zu diesem Zeitpunkt weder interessieren noch für ihr späteres Leben brauchen können? Für die sie vielleicht noch gar nicht bereit sind? Müssen wir einfach hinnehmen, dass Lerninhalte in abstrakte Fächer aufgedröselt sind -die so im wirklichen Leben ja gar nicht existieren-, anstatt die komplexen Themengebiete, die für unser Leben und unsere Zukunft relevant sind, als großes Ganzes zu sehen und zu behandeln? Dass das Gelingen oder Scheitern mitunter stark von den Lehrern abhängig ist? Dass die Kinder sich über Noten definieren und sich als Versager fühlen, wenn sie nicht mithalten können? Dass diejenigen, die in diesem System nicht funktionieren, oftmals auf der Strecke bleiben? Dass Kinder schon so früh zum Stillsitzen gezwungen und jene mit erhöhtem Bewegungsdrang mit Medikamenten „ruhig gestellt“ werden müssen? Läuft da nicht gewaltig was schief?

Werden wir sie mit alldem nicht einem großen Teil ihrer Kindheit, ihrer Freude und ihrer natürlichen Entwicklung, sowie ihrer Neugier und der von Natur aus gegebenen Lust am Lernen und Entdecken berauben? 

Sollten wir ihnen nicht vielmehr auf Augenhöhe begegnen und ihnen zutrauen mitzubestimmen und ihren persönlichen „Lernplan“ (oder besser Lebensplan) selbst zu entwickeln? Sie ermutigen und dabei unterstützen, ihren individuellen Interessen zu folgen und ihren eigenen Weg zu gehen? Wären Motivation und Lerneffekt ohne Stress und Zwang nicht viel größer? Verlieren Kinder nicht zunehmend das Vertrauen in sich selbst, wenn wir sie ständig kontrollieren und bevormunden? Und werden sie dann -auch als Erwachsene- nicht vielleicht immer wieder glauben, auf Hilfe angewiesen zu sein und sich möglicherweise in der Opferrolle sehen, wenn dies nicht der Fall ist, anstatt die Kraft aus sich selbst heraus zu schöpfen?

Sollten wir nicht anerkennen, dass auch schon (und gerade) im altersgemischten Freispiel fast alle sozialen, kognitiven und kreativen Kompetenzen trainiert werden? Dass konventionelle Lehrplaninhalte auch nur einen winzigen Teil aller möglichen Kompetenzen abdecken?

(Ich muss übrigens regelmäßig innerlich den Kopf schütteln und ganz tief durchatmen, wenn schon im Kindergarten überbesorgte Eltern das Freispiel lieber einschränken würden, damit die Kinder mehr lernen und besser auf die Schule vorbereitet werden... ui... ähm, nein!)

Wie nachhaltig ist es, wenn unsere Kinder unter Druck/Zwang nur für die nächste Klausur lernen und den Stoff dann sofort wieder vergessen? Wenn sie nur lernen zu gefallen und wiederzugeben, was der Lehrer hören will? Oder eben rebellieren?

Werden sie sich nicht viel eher an Regeln halten und sie akzeptieren, wenn sie sie selbst mitgestaltet/ausgehandelt haben?

Ist es nicht das Wichtigste und unser aller Anliegen, glücklich und mit uns selbst „im Reinen“ zu sein (und natürlich unsere Kinder glücklich zu sehen) - auch wenn das (jaaaa, ich weiß) vielleicht etwas abgedroschen klingen mag? 

Schaffen wir nicht -auch auf beruflicher Ebene- gerade dann innovative Lösungen (und sind eben auch gerade dann erfolgreich), wenn wir intrinsisch motiviert sind, etwas mit Leidenschaft tun, frei denken (dürfen), über den Tellerrand hinaus schauen, unsere Kreativität entfalten können, Konventionen überwinden, eingelaufene Pfade verlassen, Mut haben Dinge zu hinterfragen - anstatt nur über reines Wissen zu verfügen, auf dass man in der heutigen Zeit ja ohnehin problemlos zugreifen kann? Wenn wir wissen, was wir wollen und wie (dass!) wir es erreichen können? Wenn wir gelernt haben selbst aktiv zu werden, Fehler machen zu dürfen, nicht so schnell aufzugeben und an uns und unsere eigenen Ideen zu glauben? Wenn wir die Fähigkeit besitzen, andere berühren, begeistern und mitreißen zu können? Wenn wir sozial und empathisch sind? Wenn wir Verantwortung für uns selbst, unsere Mitmenschen und unsere Umwelt übernehmen können? Wenn wir gelernt haben, miteinander zu kommunizieren, Konflikte zu klären, voneinander zu lernen und gemeinschaftliche Lösungen zu finden, anstatt die Ellebogen auszufahren? Sind solche Eigenschaften in unserer heutigen Gesellschaft, in Zeiten zunehmender Digitalisierung und den damit verbundenen neuen beruflichen Anforderungen, sowie nicht zuletzt auch zum Fortbestehen und zum friedlichen Zusammenleben künftiger Generationen nicht wichtiger denn je?

Und müssten wir Demokratie nicht auch schon unseren Kindern vorleben (bzw. mit ihnen leben), wenn wir weiterhin in einer funktionierenden, toleranten Demokratie leben möchten? 


Puh, sooo viele Fragen...


Ja, vielleicht braucht Deutschland (und im Speziellen Bayern) noch ein paar Jahre, bis solche Schulkonzepte anerkannt sind und vielleicht auch die Regelschulen und unser Bildungssystem inspiriert haben -so wie auch andere alternative Schulen (Waldorf, Montessori etc.) lang um eine gewisse Akzeptanz kämpfen mussten- aber unser Sohn ist nun mal jetzt Kind und kommt bald in das schulpflichtige Alter... also liegen mir diese Fragen noch sehr auf dem Herzen: 

Würde ich mich in 10-15 Jahren -wenn viele weitere solcher Schulen aus der Erde sprießen und man endlich erkannt hat, welchen Nutzen sie für die SchülerInnen und für eine gesündere und demokratische Gesellschaft haben, während mein Sohn auf einer Regelschule seine Zeit absitzt und womöglich trotzdem (oder eben gerade deswegen!?) im Leben „scheitert“ (was ich natürlich nicht hoffe!)- würde ich mich also dann nicht fragen, warum ich ihm diese Art zu Lernen nicht ermöglicht habe, obwohl ich es schon damals „besser wusste“ und die Chance dazu gehabt hätte? Würde ich mir nicht vorwerfen, nachlässig mit seiner wertvollen Zeit und seiner Entwicklung umgegangen zu sein?


Hätten wir uns als SchülerInnen nicht selbst alle eine solche Schule gewünscht, wenn man mal die „erwachsenen“ Bedenken beiseite lässt? Wer sagt uns denn, dass wir nicht nur deshalb glauben, es als Erwachsene besser zu wissen, weil wir eben selbst auf einer Regelschule dazu konditioniert wurden? Können wir -ganz im Gegenteil- nicht sehr viel von unseren Kindern lernen?


Und muss man nicht bei sich selbst anfangen, wenn man von etwas überzeugt ist, anstatt zu warten, bis es andere einem vormachen, die vielleicht etwas mutiger sind?


Sicher gibt es eine Reihe ganz unterschiedlicher Schulkonzepte und auch Kinder, die auf einer Regelschule durchaus sehr gut zurecht kommen - ich für meinen Teil habe jedenfalls beschlossen, mich in den kommenden Jahren vor Schulbeginn so tief wie möglich mit dieser Materie zu befassen, Augen und Ohren (Herz und Verstand) offen zu halten, alles intensiv auf mich wirken zu lassen und vor allem meinen Sohn noch besser kennenzulernen - um dann letztendlich mit ihm (und als Familie) die individuell für ihn beste Entscheidung zu treffen (oder zumindest die, die wir zu diesem Zeitpunkt dafür halten).



Ich freue mich sehr auf eure Gedanken dazu!


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